Friedrich Dieckmann: GOETHE IN DEN ZEITENWENDEN / Von den Schwierigkeiten politischer Dichtung in stürzender Zeit.

12-10-2023 (18:00 - 19:00)

War Goethe ein politischer Dichter? So bewußt und unlösbar sein Dichten und Wirken den Zeitläuften verflochten war, in die er sich gestellt fand, so wenig zuständig wäre diese Bezeichnung. Er selbst hat in einem Buch, das auf den dichterischen Paroxysmus deutet, mit dem die Französische Revolution ihn und sein Schaffen verstört hatte, die politisch parteinehmende Haltung als poetisch unangemessen abgewiesen. „Der Dichter“, heißt es 1822 am Ende der „Campagne in Frankreich“, „der seiner Natur nach unparteiisch sein und bleiben muß, sucht sich von den Zuständen beider kämpfender Teile zu durchdringen, wo er denn, wenn Vermittlung unmöglich wird, sich entschließen muß, tragisch zu endigen.“

Als August Wilhelm Iffland, Schauspieler und Theaterdichter, vor allem aber Direktor der Königlichen Schauspiele in Berlin, Goethe im Juni 1814 den Auftrag übermittelte, für sein Theater ein Stück zu Ehren der über Napoleon siegreichen Monarchen Preußens, Rußlands und Österreichs zu verfassen, die sich im Sommer in Berlin versammeln wollten, kam diese Haltung in Bedrängnis. Was in großer Eile entstand, war ein aufwendiges Festspiel, dessen Titel die witzigen Berliner bei seiner stark verspäteten Uraufführung im Jahre 1815 als „Eh, wie meenen Sie dees?“ verstanden: Es war die aus der Antike genommene Geschichte von dem durch die Götter in jahrelangen Schlaf versenkten Seher Epiménides, der erwachend eine durchaus verwandelte Welt vorfindet.

Goethe selbst war dieser Epimenides, der durch seine Anhänglichkeit an die „Weltseele zu Pferde“ (ein Wort Hegels über Napoleon) der patriotischen Bewegung lange distanziert gegenübergestanden hatte und nun poetisch-publik zu Veränderungen aufschloß, denen er sich nicht entziehen konnte. Die Geschichte mit allen ihren Weiterungen und Nachspielen wirft ein Licht auf grundsätzliche Probleme im Verhältnis von Poesie und Zeitgeschichte; sie ist lehrreich und unterhaltend zugleich.

 

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