14-10-2013 (20:30)
"Was willst du denn jetzt noch wissen?“ fragt der Türhüter, „du bist unersättlich.“ „Alle streben doch nach dem Gesetz,“ sagt der Mann, „wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand ausser mir Einlass verlangt hat?“ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: „Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schliesse ihn.“ (Franz Kafka, Vor dem Gesetz)
Drückt Kafka hier die Unfähigkeit des Menschen aus, den Entschluss für das "eigene Gesetz", das eigene Leben, zu wählen, weil ihm der Mut und so auch das Wissen fehlt? Wie in der Erwartung des Unerfüllten, im Geheimnis des Unergründlichen, im Scheitern jedes Versuches das Ziel zu erreichen, aber auch darauf zu verzichten, das Werk Kafkas seine Bedeutung gewinnt und in der Lüge dieser Welt Kafka ihre Wahrheit bewahrt, in der Hoffnungslosigkeit ihre Hoffnung, und so die Frage des Wissens um das Gesetz zum Paradigma der condition humaine der Modernewird, ist das Thema des ersten Abendvortrags in der Reihe "100 Jahre jüdische Denker".
Eveline Goodman-Thau, 1934 in Wien geboren, ist Professorin für jüdische Religions- und Geistesgeschichte und bezeichnet sich selbst als "unorthodoxe Rabbinerin", wenngleich ohne formell anerkannte Ordination. Sie ist die Gründerin der Hermann-Cohen-Akademie für Religion, Wissenschaft und Kunst in Buchen (Odenwald).